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⊙ Jantar Mantar

In Jaipur, der Hauptstadt des im Westen Indiens gelegenen Bundesstaates Rajasthan, befindet sich eines der zeitlosesten und kulturell eigenständigsten Bauwerke dieser Erde. Ein Ort unsäkularisierter Einheit von Religion und Wissenschaft und nur den steinernen Zeugnissen archaischer Kulturen vergleichbar. Das Jantar-Mantar (Sanskrit; übersetzt: "Magisches Gerät") ist ein überdimensionales steinernes astronomisches Observatorium.

Es wurde zwischen 1728 und 1734 nach Plänen und Modellen von Maharaja Jai Singh II (1693-1743) im Zentrum von Jaipur, der 1727 gegründeten neuen Hauptstadt seines Fürstentums erbaut. Der tatsächliche Sinn und Zweck des Observatoriums ebenso wie die Biografie Jai Sings II liegen weitgehend im Dunkeln. Es gibt lediglich einige spärliche Hinweise und viele Legenden und Deutungsversuche.

Die folgende Beschreibung fußt auf dem wenigen Material, das 1993 in Jaipur zu finden war, Informationen und Erzählungen die ich im Observatorium bekommen habe, und eigenen Beobachtungen.

Ein Ort der Idee


Übersicht

Jai Singh liess Jaipur nach den uralten hinduistischen Regeln der Shilpa Shastra anlegen. Die Stadt ist nach Kasten und ihrer jeweiligen Bestimmung entsprechend in sieben rechteckige Bereiche gegliedert. Im zentralen, siebten Bereich liegt der Palast, die fürstlichen Frauengemächer und das Allerheiligste.

Von den alten Regeln abweichend setzte Jai Singh in den heiligen Bezirk jedoch keinen Tempel, sondern das Jantar Mantar. Zu oft wird übersehen, dass Jai Singhs II Hauptstadt und Observatorium trotz seiner wissenschaftlichen wie politischen Weltoffenheit rein religiösen Ursprung haben.

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Blick von der großen Sonnenuhr auf die kleine Sonnenuhr.
Im Hintergrund auf dem Hügel die Befestigungsmauer um Jaipur mit Fort.

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Islamische Tradition


Übersicht 2

Das Jantar Mantar von Jaipur ist das größte von 5 Observatorien, die Jai Sing II erbauen ließ. Es besteht aus steinernen Beobachtungsgeräten von gewaltigen Ausmaßen. Viele Instrumente sind typisch für islamische Großobservatorien. Das bis dahin bedeutendste islamische Observatorium, erbaut von Ulugh Begh (1394 -1449) in Samarkand, diente Jai Singh als direktes Vorbild. Seine Instrumente aber sind in Präzision, Größe und architektonischer Vollendung einzigartig. Obwohl 120 Jahre nach der Erfindung des Fernrohres erbaut, lieferten sie seinerzeit unerreichte Genauigkeit.

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Links unten einer der zwölf Tierkreisgnomen.
In der Mitte die Halbkugeln des Jai Praksh Yantra, oben rechts die kleine Sonnenuhr.

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Jai Praksh Yantra


Jai Praksh Yantra

Einige Instrumente, allen voran die in den Boden eingelassenen Halbkugeln des Jai Praksh Yantra gelten als Erfindung Jai Singhs. Zwei begehbare Halbkugeln aus Marmor von etwa 4 Meter Durchmesser - nebenbei ein Meisterwerk - sind in den Boden eingelassen.

Über den Halbkugeln ist ein Fadenkreuz mit einem Metallring angebracht. In die Innenfläche sind Koordinatenlinien graviert. Tags zeigt der Schatten des Metallringes auf den Koordinatenlinien die exakte Position der Sonne am Himmel. Die Position anderer Sterne erhält man mithilfe eines einfachen Peilrohres.

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Die komplementären Marmorhalbkugeln des Jai Praksh Yantra.
Hinten einige der 12 Tierkreisgnomen zur Bestimmung ekliptischer Positionen.

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Sich ergänzende Teile


Jai Praksh Yantra

Der Beobachter legt sich in die Halbkugel und visiert die Sterne durch ein Rohr an, dessen Ende durch den Metallring gehalten wird. Die Verlängerung des Peilrohres auf die Kugelinnenwand zeigt auf den gravierten Skalen die Sternposition. Damit trotz der Gänge keine Lücken in den Skalen entstehen, besteht das Instrument aus zwei komplementären Halbkugeln.

Die Gänge liegen in den Halbkugeln gegeneinander versetzt, so daß die Skalen beider Kugeln sich ergänzen. Regelmäßiger Wechsel der Halbkugel ermöglicht Beobachtungen rund um die Uhr.

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Das Innere der Halbkugeln ist begehbar.
Unten links das im großen Bild halb sichtbare Skalenzentrum.

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Ein eigenes Observatorium


Jai Praksh Yantra

Der Mittelpunkt der Skala liegt 27 Grad unterhalb der Kante. Die Linie vom Skalenzentrum durch den Metallring zeigt genau auf den Himmelspol. Von hier ausgehend können die Äquatorialkoordinaten eines Himmelskörpers abgelesen werden. Der Kreis um das Zentrum zeigt die Lage des ekliptischen Pols im Jahreslauf. So können selbst ekliptische Koordinaten bestimmt werden. Damit erscheint das Jai Praksh Jantra als das Meisterwerk Jai Singhs. Wohl daher steht es auch im Zentrum des Jantar Mantar und weiter westlich davon noch ein kleineres, älteres Modell.

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Im unteren Drittel das Skalenzentrum, darüber der Metallring für den Peilstab.
Links das Innere der Halbkugel.

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Astronomische Grundbegriffe


Astronomische Grundbegriffe

Die scheinbare Bahn der Sonne um die Erde - also die tatsächliche Bahn der Erde um die Sonne - wird Ekliptik genannt. Sie ist in 12 gleiche Teile, den Tierkreis, geteilt. Erdachse und Ekliptik bilden einen Winkel von etwa 23 Grad, wodurch Jahreszeiten und ungleiche Tageslängen entstehen. Am 21. Juni ist Sommersonnenwende auf der Nordhalbkugel und damit der längste Tag. Auf der Südhalbkugel ist Wintersonnenwende mit dem kürzesten Tag. Die Sonne steht über 23 Grad Nord am Wendekreis des Krebses. Am 21. März und um den 23. September überquert die Sonne den Äquator, es ist Tag- und Nachtgleiche.

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Tag- und Nachtgleiche


Äquinoktien

Die Äquinoktien (Tag- und Nachtgleichen) waren für Astronomen immer sehr wichtig. Nur an diesen Tagen herrschen auf der ganzen Erde gleiche Verhältnisse. Tag und Nacht sind gleich lang, die Sonne geht genau im Osten auf und genau im Westen unter. Während der Äquinoktien liegen beide Erdpole genau über der Ekliptik, daher werden Nord- und Südhälfte der Erde gleich beleuchtet. Im Lauf des Jahres werden Nord- und Südhalbkugel ungleich angestrahlt. Jenseits der Polarkreise haben Tag- und Nachtseite jeder Halbkugel ein halbes Jahr ständig Licht (Polartag).

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Frühlingspunkt


Frühlingspunkt

Die Frühlingsäquinoktie wird seit frühester Zeit bis heute als Bezugspunkt für Sternpositionen benutzt. Sie ist überall relativ leicht zu bestimmen, da der Ort des Sonnenaufganges am Osthorizont und der Sonnenuntergangspunkt am Westhorizont nur während der Äquinoktien eine gerade Linie bilden. Prähistorische Sternwarten (z.B. Stonehenge) sind auf den Frühlingspunkt ausgerichtet. Abhängig vom Weltbild wurde der Frühlingspunkt als Ort am Horizont, als Punkt der Sonnenbahn oder als Punkt auf der Erdbahn um die Sonne betrachtet. Dementsprechend unterscheidet man drei Koordinatensysteme.

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Horizontalkoordinaten


Horizontalkoordinaten

Am einfachsten können Sternpositionen relativ zu Frühlingspunkt (bzw. davon abgeleitet Süden) und Horizont angegeben werden. Wegen der Erdbewegung sind solche Angaben aber nur für einen Zeitpunkt und Ort gültig. Die Beobachtung periodischer Ereignisse am Himmel (Sonnenbahn, Mondzyklus, Auf- und Untergang der Venus als Morgen- und Abendstern, Kometen) können die Jahreszeiten bestimmt und ein genauer Kalender geschaffen werden, aber nur für den Standort. Ein Ortswechsel erfordert neue Beobachtungen. Daher sind Koordinaten relativ zum Horizont zur Navigation unbrauchbar.

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Äquatorialkoordinaten


Äquatorialkoordinaten

Als Bezugspunkt vom Standort unabhängig ist der Himmelspol, um den sich scheinbar alle Sterne drehen (wegen der Erddrehung). Wegen einer Kreiselbewegung der Erdachse wiederum dreht sich der Himmelspol in 25850 Jahren um den Pol der Ekliptik. Bezugspunkte für Äquatorialkoordinaten sind der senkrecht zum Himmelspol stehende Himmelsäquator und der Frühlingspunkt. Positionen ergeben sich als Abstand vom Äquator und Winkel zum Frühlingspunkt. Weil der Frühlingspunkt auf dem Himmelsäquator bestimmt wird, wandert er mit der Drehung des Himmelspols in 25850 Jahren um die Ekliptik.

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Ekliptikale Koordinaten


Eklipikalkoordinaten

Der geozentrische Ansatz des Äquatorialsystems ist der Grund, warum die Kreiselbewegung der Erdachse um die Achse der Ekliptik eine langsame Bewegung der Sternbilder und des Frühlingspunktes um den Tierkreis (Ekliptik) verursacht. Sie war schon in der Antike bekannt (Platonisches Jahr, 25850 Jahre). Von der Sonne aus betrachtet, ist der Frühlingspunkt ein Punkt auf der Erdumlaufbahn. Ekliptikale Koordinaten beschreiben Positionen relativ zum Frühlingspunkt und zur Ekliptikalebene. Sie gelten innerhalb des Sonnensystems praktisch absolut, sind aber am schwersten zu messen.

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Schattenzeiger


Schattenzeiger

Gnomen, Schattenzeiger, dienen in der Regel als Sonnenuhren. Die 14 Gnomen des Jantar Mantar unterscheiden sich in ihrer Funktion, jedoch nicht im Prinzip. Über einen Peilstab, der am Quadranten und der Rampe anliegt, wird ein Himmelskörper anvisiert. An den Anlagepunkten des Peilstabes kann man auf in die Quadranten eingeritzten Skalen die Positionsdaten ablesen. Je nachdem, ob die Rampe auf einen Punkt am Horizont (z.B. Süden), Himmelspol oder Pol der Ekliptik ausgerichtet ist, erhält man horizontale, äquatoriale oder ekliptikale Koordinaten. Zusätzlich kann am Zeigerschattens die Urzeit abgelesen werden.

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Samyat Yantra


Samyat Yantra

Mit über 30 Metern Höhe ist die große Sonnenuhr das eindrucksvollste und größte Instrument. Die nach Norden gerichtete Rampe mit 27 Grad Steigung bildet den Zeiger. Der Winkel entspricht dem Breitengrad, auf dem Jaipur liegt. Damit zeigt die Rampe genau auf den Himmelsnordpol. Der Zeigerschatten fällt auf die flügelartigen westlichen und östlichen Skalen. Sie sind, wie die Seitenkanten des Zeigers, aus Marmor und tragen Messteilungen. Sie zeigen die Ortszeit auf vier Minuten genau an. Mit einem Peilstab geht die Präzision der Sonnenuhr in den Sekundenbereich.

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Links der rund 30 Meter hohe Zeiger.
Rechts das Ende der östlichen Skala am späten Nachmittag.

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Mehr als nur Geschichte


Samyat Yantra 2

Mit einem Schattenstab, der die Treppe auf- und ab- bewegt wird, bis der Schatten die Kante des Quadranten gerade trifft, wird der Gradabstand der Sonne vom Äquator gemessen. Äquinoktien und Sonnenwenden die für alle astronomisch-astrologischen religiösen Weltsysteme zentrale Bedeutung haben können so präzise vorherbestimmt werden. Die Rampe ist übrigens abgesperrt. Sie darf bis heute nur vom Maharaja und den Priestern betreten werden. Die kleine Sonnenuhr ist hingegen frei zugänglich. Vielleicht war sie schon immer für profane Zwecke bestimmt.

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Links das Ende der westlichen Skala.
Rechts die Westseite der großen Sonnenuhr.

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Tierkreisgnomen


Tierkreisgnomen

Westlich des Samyat Yantra stehen 12 kleinere 2-3 Meter hohe Gnomen, die in unterschiedliche Richtung zeigen. Mit ihnen bestimmt man ekliptikale Koordinaten. Ihre Zeiger sind auf den Pol der Ekliptik ausgerichtet. Die Quadranten liegen in der Ebene der Ekliptik. Da sich der ekliptische Pol auf einer Kreisbahn bewegt, kann der Zeiger nur für einen festen Zeitpunkt auf ihn gerichtet sein. Jeder der 12 Gnomen ist auf die Position des ekliptischen Pols bei Eintritt in ein neues Tierkreiszeichen gerichtet. Aus den 12 Messpunkten können die Werte für andere Tage interpoliert werden.

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Vorne einige der 12 auf den Tierkreis ausgerichteten Gnomen.
Im Hintergrund eine Detailansicht der in Marmor eingelegten Bleiskalen der Sonnenuhr.

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Bei weitem nicht alles


Doppelsonnenuhr

Herausragend unter vielen weiteren Instrumenten ist das große Astrolabium, eine Metallscheibe, auf der eine Himmelskarte graviert ist. Ähnlich einem Rechenschieber werden mit beweglichen Linealen Koordinaten umgerechnet, Auf- und Untergangsort und -zeit eines Sterns berechnet und Horoskope erstellt. Mit einem Peilrohr wird die Zenitdistanz eines Gestirns bestimmt. Übliche Astrolabien haben 30 - 50 cm Durchmesser, Jai Singhs dagegen etwa 2 Meter. Eine von Ihm entwickelte Legierung aus 7 Metallen schützt vor Größenänderungen durch die Sonnenerwärmung.

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Im Vordergrund ein Messgerät zur Bestimmung ekliptikaler Koordinaten.
Dahinter die Nordseite der äquatorialen Doppelsonnenuhr

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Weiterführendes


Doppelsonnenuhr 2

Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung war zu diesem einzigartigen Gesamtkunstwerk nur wenig geschrieben worden, obwohl es in der astronomischen Fachliteratur immer als ungewöhnlich erwähnt wird. Vielleicht wollte man die Bedeutung des Jantar Mantar auch gar nicht so hervorheben, relativiert sich doch mit seinen genialen Konstruktionen und dem religiös-wissenschaftlichen Gesamtwerkes Jai Singhs der geistige Allmachtanspruch der aufgeklärten Neuzeit. Fast alle Instrumente des Jantar Mantar sind auf die Mittel einer hochentwickelten Steinzeitkultur beschränkt und könnten auch in Ägypten, in Südamerika oder in Stonehenge gestanden haben.

Nachtrag: Seit 2001 gibt es das sehr umfassende Werk "Cosmic Architecture in India" von Andreas Volwahsen (Prestel Verlag). Auch wenn es die technisch-wissenschaftliche Seite des Jantar-Mantar gegenüber der in Jaipur nach wie vor lebendigen magisch-mystischen Kulturbedeutung stark betont, ist es allen Interessierten zu empfehlen.

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Südseite der Doppelsonnenuhr.





Erstveröffentlichung 1998, Überarbeitung 2013, neues Layout und kleine Änderungen 2023